Vergessen Sie Kundenfreundlichkeit!
Prof. Peter Fader über Customer Centricity
Vergessen Sie Kundenfreundlichkeit!
Wer ist der Kunde eigentlich wirklich? Gibt es „gute“ und „weniger gute“ Kunden? Für Peter Fader, Experte für Customer Centricity, liegt in der Ausrichtung auf die richtigen Kunden ein wesentlicher Wettbewerbsvorteil. Im Interview erklärt der Marketingprofessor der Wharton School, warum man zwar keinen Kunden schlecht behandeln, einige aber unbedingt bevorzugen sollte.
Professor Fader, in vielen Firmen gilt der Grundsatz „Der Kunde steht im Mittelpunkt unseres Unternehmens“. In der Wahrnehmung vieler Mitarbeiter bedeutet dies jedoch, dass der Kunde ihnen immer im Weg steht. Passt das zu Ihrer Erfahrung als Experte für Kundenorientierung – oder als Kunde?
Das ist eine wirklich extreme Aussage, die mir natürlich nicht gefällt. Aber tatsächlich ist die zentrale Rolle der Kunden für viele Unternehmen nur ein Lippenbekenntnis. Die meisten sind nicht wirklich ernsthaft daran interessiert, Kunden wirklich zu verstehen oder zu bedienen. Für viele ist Kundenorientierung eher ein Ärgernis als ein Herzenswunsch, so dass sie darin nicht sehr gut sind. Ein typischer Fehler: Viele Unternehmen verwechseln Kundenfreundlichkeit mit Kundenorientierung.
Warum ist Kundenfreundlichkeit nicht gleichbedeutend mit Kundenorientierung?
Weil nicht alle Kunden gleich sind. In den Fünfziger Jahren, als das Marketing erfunden wurde, hatte man noch keine Vorstellung davon, wie sich die Kunden unterscheiden. Deshalb sprach man von „dem Kunden“. Die Entdeckung, dass Kunden keineswegs gleich sind, sahen viele als Ärgernis an. Heute begreifen wir es als Chance: Wenn wir herausfinden, wer unsere besten Kunden sind und uns auf sie einstimmen, können wir tatsächlich mehr Geld verdienen – anstatt zu versuchen, den Durchschnittskunden zu bedienen. Leider verstehen die meisten Unternehmen nicht ganz, was die Unterschiede zwischen Kunden für sie wirklich bedeuten.
…was zu dem Konzept der Customer Centricity führt, das Sie seit Jahren untersuchen.
Customer Centricity bedeutet, dass Sie freundlich sind, einen guten Service bieten und neue Produkte und Dienstleistungen für Ihre besonderen Kunden – diejenigen, die viel Wert für Sie bieten – entwickeln, aber nicht unbedingt für die anderen. Man muss auswählen und sich entscheiden: Einige Kunden verdienen eine Sonderbehandlung. Wenn andere ebenfalls bei Ihnen kaufen wollen, ist das toll, aber sie werden nicht gleich behandelt.
Wie kann ein Unternehmen die Kunden identifizieren, auf die es sich konzentrieren sollte? Das klingt nicht gerade trivial.
Bevor wir zum Kern dieser Frage kommen und die Kunden aussortieren, müssen wir uns erst einmal fragen: Welche Rolle hat unser Kunde inne? In einem B2C-Kontext steht außer Frage, dass der Kunde die Person ist, der wir unser Produkt verkaufen und die es nutzt. Hier ist das Leben einfach. Sprechen wir hingegen von einem B2B-Setting, ist es etwas ganz Anderes. In einem komplexen Setting wie der Pharmabranche kann unser Kunde der Patient, der Arzt, die Versicherung, das Krankenhaus-Einkaufsnetzwerk sein. Zunächst muss man also einen Konsens darüber erzielen, auf welche Rolle man sich konzentriert – eine Diskussion, die überraschend wenige Unternehmen führen. Stattdessen konzentrieren sich viele Abteilungen auf unterschiedliche Kunden, was zu Verwirrung und Fehlausrichtung führt.
Sobald wir also „den“ Kunden definiert haben: Was kommt als nächstes?
Wenn wir Klarheit darüber haben, wer wirklich unsere Kunden sind, müssen wir entscheiden, welche Metrik wir verwenden werden, um sie zu bewerten. Das führt zum Kern dessen, was ich in den letzten Jahrzehnten untersucht habe: dem Konzept des Customer Lifetime Value. Dieser Indikator ist die Summe der Gewinne, die ein Unternehmen während seiner gesamten Beziehung zu einem Kunden erzielt. Sie wird verwendet, um abzuschätzen, wie viel für die Gewinnung und Haltung neuer Kunden ausgegeben werden muss. Dabei sprechen wir nicht vom Wert eines Kunden in der Vergangenheit, sondern vom Customer Lifetime Value in der Zukunft. Ein Unternehmen sollte seine Kunden danach kategorisieren, was sie in Zukunft wert sind.
Ist es wirklich möglich, den Wert jedes einzelnen Kunden zu prognostizieren?
Sicher. Als wir dieses Konzept entwickelt haben, konnten wir glücklicherweise auf wirklich guten Arbeiten anderer Marketingexperten aufbauen. Heute könnten wir Ihnen ziemlich genau vorhersagen, wie lange ein Kunde Ihnen treu bleiben, wie viele Transaktionen er über diesen Zeitraum tätigen und wie groß der Warenkorb und der finanzielle Wert jeder dieser Transaktionen sein wird. Danach können wir Anwendungsfälle entwickeln, wie Unternehmen ihre Geschäftspraktiken als Ganzes auf die besonders wertvollen Kunden ausrichten sollten. Es geht sowohl um die operative wie auch die organisatorische Fähigkeit, verschiedene Produkte und Dienstleistungen für verschiedene Arten von Kunden auf den Weg zu bringen. Das ist ziemlich komplex.
Ein Unternehmen sollte seine Kunden danach kategorisieren, was sie in Zukunft wert sind.
In einem Interview haben Sie Apple – eine der wertvollsten Marken Ihrer Zeit – ziemlich überraschend als ein Unternehmen genannt, das kundenfreundlich, aber nicht kundenorientiert ist.
Das führt uns dorthin zurück, wo wir begonnen haben: Apple stellt den Kunden in den Mittelpunkt seines Handelns. Als Steve Jobs den ersten iPod vorstellte, wusste er noch genau, was der Kunde wollte, da die Kunden tatsächlich nach dieser Art von Produkt gefragt hatten. Aber seitdem tut Apple viel weniger, was die Analyse von Kundenverhalten, die Heterogenität von Kunden und die Projektion des Customer Lifetime Values betrifft. Sie sind viel schlechter darin als andere Silicon-Valley-Giganten wie Facebook, Netflix oder Google. Fast alle Unternehmen auf der Welt verfolgen statt einer kundenorientierten eine produktorientierte Strategie.
Das ist wieder etwas, was Sie erklären müssen.
Was sind die Merkmale, nach denen die meisten Unternehmen streben und welche sie hervorheben? Nummer eins auf ihrer Liste ist Innovation, also die Entwicklung bahnbrechender Produkte oder Dienstleistungen. Deshalb investieren Unternehmen so viel Geld in F&E – und nachher Marketing, um zu verkaufen, was sie entwickelt haben. „Jetzt, da wir diesen coolen neuen Service haben – an wen sollen wir ihn verkaufen?“ Das ist die Frage, die sie sich stellen. Ihr ganzes Denken beginnt mit dem Produkt.
Das aber ist ganz anders als das, was ich vorschlage, nämlich: beim Customer Lifetime Value anzusetzen und herauszufinden, wer die wertvollsten Kunden sind. Und daraus folgt die Frage: „Was sollten wir entwickeln, um den Wert dieser wertvollsten Kunden zu steigern?“
Auf den ersten Blick sehen diese beiden Ansätze ziemlich ähnlich aus. Aber in Wirklichkeit unterscheiden sie sich mit Blick auf die Unternehmensgesamtstrategie und die Metriken zu ihrer Messung gewaltig.
„Würden Sie Hager empfehlen?“
Mit dieser Frage wurden im Sommer 2019 mehr als 3.100 Kunden in sechs Ländern konfrontiert. Befragt wurden sie von Interviewern des Marktforschungsunternehmens IPSOS, das im Auftrag der Hager Group erstmals auf Gruppenebene die Zufriedenheit von Elektroinstallateuren, Schaltanlagenbauern und Großhändlern mit uns und unseren Angeboten untersuchte. Von Ende Mai bis Mitte Juli wurden dafür repräsentativ ausgewählte Kunden in Frankreich, Deutschland, Spanien, Portugal, Großbritannien und China interviewt und die Ergebnisse systematisch ausgewertet. „Unsere Speak Up!-Umfrage belegt, wie erfreulich stark unsere Kundenbindung in den meisten Ländern und Kundensegmenten ist“, sagt Caroline Nivelle, Director Customer Marketing Europe. „Sie zeigt uns aber auch, wo wir in Zukunft noch besser werden können.“
Grundlage der Speak Up!-Kundenzufriedenheits-Umfrage ist der so genannte Net Promoter Score, mit dem auch Weltmarken wie adidas, Philips, General Electric und Apple die Zufriedenheit ihrer Kunden messen. Er ergibt sich aus der Antwort auf eine Frage, die Marktforschungsexperten als „ultimative Frage“ bezeichnen, weil sie weit aussagekräftiger ist als alles, was übliche Kundenzufriedenheitsstudien an Ergebnissen hervorbringen. Sie lautet: „Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie dieses Unternehmen einem Freund weiterempfehlen?“ Der Gedanke: Wer ein Produkt, eine Marke oder ein Unternehmen Freunden weiterempfiehlt, koppelt sie an seine Person und betreibt auf diese Weise eine Art Co-Branding mit der Marke.
Für Hager ergab sich mit einem NPS von 46 ein außergewöhnlich hoher Zufriedenheitswert. Er liegt sowohl weit über jenem unserer Branche (mit einem NPS: 27) als auch über dem Durchschnittswert aller B2B-Marken (NPS: 10). Mit anderen Worten: Ein überdurchschnittlich hoher Anteil unserer Kunden würde Hager seinen Freunden empfehlen.
Mindestens so erfreulich wie dieses Ergebnis ist die Tatsache, dass Speak Up! uns Hinweise liefert, in welchen Segmenten wir unsere Kunden weniger überzeugen. Caroline Nivelle: „An all diesen Themen arbeiten wir jetzt mit Prioritätenlisten und Activation Workshops. Und mit der nächsten Speak Up!-Umfrage, die wir 2021 auf 11 Länder ausweiten werden, können wir genau prüfen, wie erfolgreich wir in unseren Bemühungen gewesen sind.“
Gibt es ein Unternehmen oder eine Marke, die aus Ihrer Sicht wirklich gut darin ist, eine kundenorientierte Strategie zu verfolgen?
Es gibt in dieser Hinsicht viele Unternehmen auf der ganzen Welt, die beginnen, diese Ideen aufzunehmen – von der Commonwealth Bank in Australien bis hin zu Marimekko in Helsinki. Eine Firma, die ich sehr bewundere ist Electronic Arts (EA) – also jene Firma, die Spiele wie SimCity oder World Cup herausbringt. EA war ziemlich produktzentriert, bevor sie vor 10 oder 15 Jahren die Strategie wechselte und herauszufinden begann, wer ihre besten Kunden waren, und wie Spiele mit Blick auf diese Kunden zu entwickeln wären. Heute prüfen sie jeden Tag, welche Spiele Sie als EA-Kunde spielen, wie viel Zeit und Geld Sie mit diesen Spielen verbringen und was das für Ihren Customer Lifetime Value bedeutet. Und das tun sie jeden Tag für eine Milliarde Kunden. Es ist unglaublich.
Wie stellen diese Unternehmen sicher, dass ihre Erkenntnisse über die Präferenzen ihrer Kunden im gesamten Unternehmen umgesetzt werden?
Das ist eine entscheidende Frage, die mich direkt zu Electronic Arts zurückführt. Zachery Anderson, Chief Analytics Officer bei Electronic Arts, kümmert sich mehr um diese Themen als um die technischen Fragen, die den Modellen zugrunde liegen. Wie bringt man ein Unternehmen dazu, dass seine Mitarbeiter Daten teilen, Daten nutzen und auf Grundlage von Daten bessere Entscheidungen treffen? Diese Art von Disziplin, die Kultur und die Ausrichtung des Unternehmens auf eine kundenorientierte Linie zu bringen, ist wirklich eine anspruchsvolle Aufgabe.
Die Leute wollen sich nicht umsehen, und wenn Sie sie über längere Zeit beobachten, werden Sie feststellen, dass Kunden immer weniger herumsuchen, wenn sie einmal einen verlässlichen Anbieter gefunden haben.
Heute behaupten viele Marketingleute, Kunden seien viel anspruchsvoller und sprunghafter als in der Vergangenheit. Stimmt die These – oder ist sie lediglich eine Ausrede für faule Vermarkter?
Eher das Letztere. Oder vielleicht für naive Vermarkter, die zu sehr dem Hype glauben. Denn die Grundmuster sind die gleichen, wir umgeben sie nur mit all dieser Mythologie. Es mag wahr sein, dass der Durchschnittskunde heute eine kürzere Beziehung zu Marken unterhält als in der Vergangenheit, aber der Unterschied ist nicht so entscheidend. Die Leute wollen sich nicht umsehen, und wenn Sie sie über längere Zeit beobachten, werden Sie feststellen, dass Kunden immer weniger herumsuchen, wenn sie einmal einen verlässlichen Anbieter gefunden haben. Der Aufwand für den Wechsel des Kontos von einem Anbieter zum anderen wird immer hoch sein, sodass Kunden eher ihrem altbekannten Anbieter treu bleiben.
Was sich vor allem unterscheidet, sind die Kunden voneinander, und es geht darum, diese Heterogenität schätzen zu lernen. Wenn Sie frühzeitig in der Gewinnungsphase jene Kunden herausfiltern, die einen hohen Lifetime Value für Sie besitzen, sind diese Kunden für Sie hundertmal wertvoller als die Durchschnittskunden, selbst wenn Sie mehr für deren Gewinnung aufwenden müssen.
Wann und wie sind Sie als Kunde in der jüngeren Vergangenheit von einem Unternehmen oder einer Marke überrascht worden?
Ich bin ein großer Fan davon, wertvolle Kunden besser zu behandeln als andere. Kein großer Fan bin ich davon, Durchschnittskunden schlechter zu behandeln. Genau das aber hat Harrods, das britische Luxuskaufhaus, kürzlich getan: Während der Weihnachtszeit können dort Kinder immer in der sogenannten Weihnachtsgrotte von Harrods den Weihnachtsmann besuchen und ein Geschenk erhalten. Es ist eine alte Tradition. In diesem Jahr aber kündigte Harrods an, dass dieser Service nur für Kunden angeboten würde, die in diesem Jahr mehr als 2.500 Dollar bei Harrods ausgegeben hatten.
Diese Politik ist so schrecklich, dass ich nicht einmal darüber reden will, wie dumm sie eigentlich ist. Leider vergessen viele Leute, dass es bei Customer Centricity nicht um Strafen, sondern um Belohnungen geht. Das macht es so traurig, solche Geschichten zu hören.