Digitale Zwillinge erobern Bauprojekte

Digitalisierung

Digitale Zwillinge erobern Bauprojekte

Digitale Techniken wie das „Building Information Modeling“ werden es in Zukunft wesentlich einfacher machen, Gebäude zu planen und zu bauen. Die Technologie steckt immer noch in den Kinderschuhen. Aber wenn es um die Digitalisierung in der Baubranche geht, war die Hager Group von Anfang an mit dabei.

Frédéric Bastin, IT Consultant Engineering, SDM Applications & Software ist seit zweieinhalb Jahren bei der Hager Group. Mit seinem Team implementiert er das „Building Information Modeling“.
Ruud Bovenkamp: Für das Projekt am niederländischen Standort der Firma Boskalis zeichnete er sich verantwortlich. Rund zwei Monate dauerte es, bis die BIM Planung in 3D fertig war.
Martwin de Man: Seit 2004 arbeitet er für die Hager Group als Projektleiter in den Niederlanden. Das Projekt mit Boskalis war eines der ersten, das in 3D erstellt wurde.
Valerian Timm ist seit 2019 bei der Hager Group und seit Januar 2020 mit dem Thema Building Information Modeling beauftragt.

Frédéric Bastin kann sich noch gut daran erinnern, wie er immer wieder Elektroleitungen auf Baustellen entfernen musste, die er gerade erst installiert hatte. Das passiert zum Beispiel, wenn Planer übersehen haben, dass ein Belüftungsschacht genau dort verlaufen muss, wo Bastin gerade seine Kabelkanäle verlegt hatte. „In komplexen neuen Gebäudeprojekten sind solche Konflikte nahezu unvermeidbar, selbst mit gewissenhafter Planung“, erklärt Bastin, der früher in seiner Karriere als Elektrotechniker auf Baustellen in aller Welt gearbeitet hat. „Für die Handwerker ist das sehr anstrengend. Für den Auftraggeber ist es teuer und stellt keinen unbedeutenden Zeit- und Kostenaufwand für das Gesamtprojekt dar.“

In Zukunft könnten derartige Konflikte aber nicht nur vermieden werden, sondern die gesamten Planungs- und Bauphasen auf eine völlig neue, virtuelle Ebene gehoben werden. Dies ist dank einer digitalen Technologie möglich, die Frédéric Bastin und sein Team derzeit bei der Hager Group implementieren. Mit dem sogenannten „Building Information Modeling“, kurz BIM, können viele Gebäude in Zukunft während und sogar vor der tatsächlichen Bauphase als virtuelles Modell erstellt werden. Diese digitalen Zwillinge sind unter anderem in der Automobil- und Fertigungsindustrie bereits weit verbreitet. Zunehmend setzen sie sich auch in der Baubranche durch.

BIM kann verwendet werden, um Räume zu simulieren, die im realen Leben (noch) nicht verfügbar sind, aber die in naher Zukunft voll funktionsfähig sein müssen.

Frédéric Bastin, IT Consultant Engineering, SDM Applications & Software

Die Haupt­verteilung der nieder­ländischen Firmen­zentrale der Firma Boskalis: Insgesamt gibt es drei Haupt­verteiler mit 800 Ampere.
Das Versprechen

Einfach ausgedrückt, handelt es sich beim digitalen Zwilling um einen virtuellen Doppelgänger eines realen Produkts oder Prozesses. Das Rohmaterial, aus dem solche digitalen Spiegelbilder entstehen, sind Daten. Idealerweise ist die Datenbank so präzise und umfassend, dass der Zwilling das Original mit all seinen relevanten Eigenschaften widerspiegelt. Realitätsgetreu und in Echtzeit.

Zwei Leitungen, die sich dank BIM-Planung nicht in die Quere kommen: Dank der Planung im 3D-Modell konnte schon vor der Installation eine Lösung gefunden werden, damit sich die rote Gasleitung und die graue Stromschiene nicht den Weg versperren.

Industrieunternehmen, die ihre Herstellungsprozesse und ihre Produkte digital planen und analysieren, vertrauen darauf. Das US-amerikanische Unternehmen General Electric zum Beispiel nutzt die digitale Zwillingstechnologie für 800.000 Fertigungswerke weltweit. Das Technologieunternehmen setzt sie unter anderem dafür ein, Flugzeugmotoren, Windturbinen und komplette Kraftwerke zu animieren und dadurch wertvolle Erkenntnisse darüber zu erlangen, wie eine solche Anlage funktioniert, wann ein Motor eine Wartung benötigt und wo potentielle Schwächen in einer Windkraftanlage auftreten können.

Digitale Zwillinge sind mehr als nur virtuelle Bilder. Sie sind dreidimensionale, lebendige Nachbildungen des Originalobjekts oder -prozesses. Genauso wie menschliche Zwillinge sehen sie nicht nur aus wie das Original, sondern reagieren auch ähnlich. Digitale sowie echte Zwillinge haben dieselbe DNA und dieselben Charaktereigenschaften.

Deshalb sind sie so wertvoll. Denn mit ihrer Hilfe kann die Realität – auch wenn sie sich gerade erst im Aufbau befindet – digital simuliert werden. Mit ihnen können wir sogar einen Blick in die ferne Zukunft werfen. Das ist äußerst hilfreich, insbesondere in der Bauindustrie, in der das Building Information Modeling seit den 1980er Jahren immer weiterentwickelt wurde, sich aber erst jetzt wirklich auf dem Vormarsch befindet.

Vorteile für die Baubranche

„BIM kann verwendet werden, um Räume zu simulieren, die im realen Leben (noch) nicht verfügbar sind, aber die in naher Zukunft voll funktionsfähig sein müssen“, erklärt Frédéric Bastin. In digitalen 3D-Modellen können die Gewerke, die am Bau beteiligt sind, ihre Komponenten anpassen und testen, wie sie miteinander interagieren. Planer können die Gebäudefunktionen und -abmessungen bereits vor den ersten Aushubarbeiten erkunden und korrigieren. Das heißt, bevor Klimaanlagenmechaniker und Elektrotechniker auf der Baustelle tätig werden, werden sie potentielle Konfliktstellen im virtuellen Modell identifiziert und behoben haben. Bastin: „BIM ist perfekt für die verschiedenen Baugewerke. Man kann seine eigene Perspektive beibehalten, aber sie bereits in der Planungsphase mit den anderen Gewerken abstimmen.“

Derzeit befindet sich die Branche noch in den Anfängen.

Valerian Timm, Customer Manager for Electrical Consultants

Ein Beispiel dafür ist das Zentrum für Virtuelles Engineering des Fraunhofer Instituts in Stuttgart. In der Planungsphase wurde das 3.200 m² große Gebäude, das von UNStudio und Asplan Architekten entworfen wurde, in einem dreidimensionalen, maßstabsgetreuen virtuellen Realitätsmodell nachgebildet. Alle zwei bis vier Wochen haben sich Architekt, Planer, Handwerker und Kunde in diesem simulierten Gebäudemodell getroffen, um den Bau zu besprechen. Mithilfe von 3D-Brillen und leistungsstarken Projektoren konnte das dreidimensionale Modell in einer raumgroßen Projektion betrachtet werden. Während die Teilnehmer sich im virtuellen Modell umgesehen haben, erfassten Kameras sämtliche ihrer Bewegungen und passten die Displayperspektive an den Blickwinkel des Betrachtenden an. So konnten Planer und Nutzer das Gebäude erkunden, erfassen und optimieren. Bevor es tatsächlich erbaut wurde, kannten sie es bereits. Faktoren wie Raumgrößen und Laufwege sowie die Anordnung von Fenstern und anderen Objekten konnten so an ihre Bedürfnisse angepasst werden.

Ein weiteres Beispiel ist ein neues Gebäude auf dem Boskalis Campus in Papendrecht in den Niederlanden, das sogenannte „Gebäude 6“, entworfen vom Architekturbüro OPL. Es wurde erbaut von Visser & Smit Bouw B.V. und elektrotechnisch ausgestattet von HOMIJ Technische Installaties, wobei Hager mehrere Haupt- und Unterverteilerschränke sowie Schienenverteilersysteme lieferte. „In enger Zusammenarbeit mit HOMIJ Technische Installaties haben wir festgelegt, wo sich die Schienenverteilersysteme befinden müssen“, erklärt Martwin de Man, Projektmanager bei der Hager Group. „Wir haben dann das gesamte Schienenverteilersystem in 3D bzw. BIM erstellt und es in das Architekturmodell integriert, um Verzögerungen und Kosten durch Baupausen auf der Baustelle zu reduzieren.“

Ein Blick in die Elektro­installation bei Boskalis: Statt acht dicker Kabel gibt es eine Strom­schiene, die zum Verteiler­schrank führt.

Dieser Prozess wird Elektrikern beispielsweise dabei helfen, während der Installation und der Wartung Zeit einzusparen und präziser zu planen, um bessere Ergebnisse zu erzielen.

Frédéric Bastin

Der Status quo

Ein großer Vorteil der BIM-Modelle ist ihre enorme Detailgenauigkeit: Eine große Menge an Daten und Informationen wird in einer einzigen Softwarelösung und im Building Information Modeling zusammengeführt. Die in das System überführten Daten enthalten genaueste Produktions- und Baudetails bis hin zur kleinsten Verbindung.

Gleichzeitig stellt dies eine enorme Herausforderung dar. Denn BIM-Modelle bestehen aus vielen zusammengesetzten digitalen Spiegelbildern. Wenn man ein Gebäude realistisch digital darstellen will, muss man seine gesamten Materialien, Komponenten und Dimensionen digital wiedergeben können. Das heißt: Man braucht für all diese Faktoren Daten, die vollständig, vergleichbar und verknüpfbar sind.

„Derzeit befindet sich die Branche dabei noch in den Anfängen“, sagt Valerian Timm, BIM-Experte bei der Hager Group in Deutschland. „Bevor wir komplette Bauprojekte replizieren können, müssen Hersteller und Gewerke erst ihre gesamten Datenbanken überprüfen und vervollständigen.“ Genau daran arbeitet derzeit das „One Spot“-Team der Hager Group: Bis 2022 will es alle Produktdaten standardisieren und neu strukturieren. Gleichzeitig untersucht das Team von Frédéric Bastin die Anforderungen von elektrischen Planern, Handwerkern und Architekten, um die BIM-Lösungen der Hager Group immer weiter auf ihre Bedürfnisse anzupassen.

In einem nächsten Schritt werden die Produktdaten mit einer sogenannten Logik versehen. Das bedeutet, dass zum Beispiel ein Schaltschrankdatensatz automatisch „weiß“, dass ein passender Sockel ebenfalls zu dem Schaltschrank gehört. Wenn elektrische Planende den Schaltschrank in seiner BIM-Projektplanung verwenden, wird automatisch ein Sockel hinzugefügt.

Das mittlerweile fertiggestellte Gebäude der Firma Boskalis in Papendrecht (Niederlande) hier noch in der Bauphase.

Dies wiederum führt zu einem weiteren Problem. Denn je detaillierter die BIM-Modelle erstellt werden, desto größer werden die Datenmengen, die von den Computern der beteiligten Gewerke verarbeitet werden müssen. Heutige Computer sind mit diesen Datenbergen schlichtweg überfordert. „Die Daten eines einfachen Brüstungskanals belaufen sich allein auf 200 MB“, erklärt Valerian Timm. „Um das gesamte Gebäude aufrufen und bearbeiten zu können, benötigt jedes beteiligte Gewerk eine enorme Rechenleistung, damit ihre Computer nicht ständig abstürzen.“

Deshalb werden BIM-Modelle derzeit fast nur für die einfachsten Anwendungen verwendet, zum Beispiel in der Konfliktplanung. Für die Nutzung von komplexen BIM-Modellen werden in vielen Fällen noch neue Lösungen benötigt.

Die virtuelle Zukunft

Dennoch sehen die BIM-Experten bei der Hager Group darin vielversprechendes Potential. Wenn sich BIM-Modelle in der zweiten Hälfte unseres Jahrzehnts immer mehr durchsetzen, könnten spezialisierte Handwerker ihre geplanten Installationen vollständig virtuell planen und prüfen, ob diese sicher und effizient sind. Während Wartungsarbeiten könnten sie VR-Brillen verwenden und sich die gesamte Elektroinstallation vor Ort anzeigen lassen. Und je mehr Komponenten mit dem „Internet der Dinge“ (IoT) verknüpft sind, desto mehr Daten – wie zum Beispiel die Momentanleistung einer Komponente, Leistungshistorie sowie Wartungsintervalle – können abgerufen werden. Immobilien und deren Elektroinstallationen würden somit zu transparenten Einheiten werden, die wesentlich einfacher zu warten und zu optimieren sind.

„Wir sehen BIM als Prozess, mit dem wir unsere Kunden auf ihrer digitalen Reise unterstützen“, erklärt Frédéric Bastin. Dieser Prozess wird Elektrikern beispielsweise dabei helfen, während der Installation und der Wartung Zeit einzusparen und präziser zu planen, um bessere Ergebnisse zu erzielen.

Und in Zukunft wird man dann auch hoffentlich weniger gerade verlegte Leitungen wieder entfernen müssen.

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